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o.T.

2005 Dresden

Galerie Blue Child, Kunsthofpassage Dresden-Neustadt

Rede zur Ausstellungseröffnung „o.T.“ von Julia Schönfeld:

Verehrte Besucher, liebe Gäste, liebe Freunde der Kalligraphie,

ich freue mich, heute an dieser Stelle ein paar einführende Worte und persönliche Gedanken zur neuen Ausstellung in der LadenGalerie Blue Child an Sie richten zu dürfen. Die Schau zeigt neue Arbeiten der Kalligraphin Marí Emily Bohley.

O Punkt T Punkt – ist der Titel dieser Ausstellung.

  1. T. – ohne Titel

nicht selten stehen diese beiden Buchstaben unter zeitgenössischen Werken bildender Künstler – in diesem Fall ist der Titel, also kein Titel, der gesamten Ausstellung übergeordnet. Als ich Marí kürzlich in ihrem Atelier besuchte und die Fülle der in jüngster Zeit entstandenen Schriftwerke betrachten durfte, kam mir in den Sinn, dass o.T. ja auch für „offener Titel“ stehen könnte. Das Offenlassen, das nicht Festlegen auf einen Titel ist Programm, es bringt die Vielschichtigkeit in den kalligraphischen Arbeiten dieser neuen Schau zum Ausdruck.

Ich möchte im folgenden vier Themen herausgreifen, die mir in dieser Auswahl an Arbeiten Marí Bohleys prägnant erscheinen. Dabei will ich keine Bildbeschreibungen liefern, denn Sie können die Werke mit ihren eigenen Sinnen wahrnehmen.

Ich möchte 1. einige Gedanken äußern über:

  1. Die Verwendung der Gotischen Schrift Bastarda
  2. Literatur als Grundlage von Kalligraphie
  3. Abstraktion
  4. Collage

Zum Punkt 1

Wenn man die Ausstellung über die kleine Wendeltreppe betritt, wandert der Blick vom Boden 3er großer Papierfahnen zu deren Höhen Empor. Diesen 3 Arbeiten, wie auch weiteren Arbeiten in den Mappen, liegen die Auseinandersetzung mit der Bastarda zugrunde. Die Bastarde ist in die Gruppe der gotischen Schriften einzuordnen, deren Merkmal dichte, eckige Striche und Rauten an Kopf- und Fußabschlüssen ausmacht. Der gotische Schriftstil entwickelte sich aus der karolingischen Minuskel. Im 13. Jahrhundert hatte er sich als Buchschrift durchgesetzt und überdauerte in seinen vielen Formen bis ins 16. Jahrhundert.

Die Bastarda ist eine kursive Variante der gotischen Schrift, die freier geschrieben ist und einen alltäglicheren Stil zeigt als die gotischen Handschriften. Charakteristisch sind die geringe Höhe im Verhältnis zur Federbreite, die spitz zulaufenden Bögen und häufig wechselnden Federansatzwinkel sowie die Haarlinien.

Marí Bohley verlässt schon bald nach dem Erlernen der Ursprungsformen das bloße Nachahmen der historischen Buchstaben. Sie entwickelt ihre eigenen Bastarda-Grundformen, verlässt bald aber auch diese. Als ließe sie die Buchstaben nach ihrer Geburt in die Freiheit, wo sie einem Kinde gleich, das heranwächst, ihre eigenen Erfahrungen machen müssen. Die Buchstaben beginnen zu tanzen, zu kreisen, zu spielen. Und doch werden sie von Marí Bohley nie ganz losgelassen. Mit dem sicheren Wissen um die Gesamtgestaltung des Blattes hat sie die tanzenden Gebilde ihrer Bastarda-Formen im Griff.

Und trotz der freien Formen lässt sie die Traditionen nie außer Acht. Ihre Referenz an die gotische Schrift wird in der Dichte des Schriftbildes, den spitz auslaufenden Buchstaben und den Haarlinien deutlich, die durch Kippen der Feder auf die Kante erzeugt werden.

zu Punkt 2

Vereinzelt hört man von Betrachtern solcher expressiver Arbeiten Aussprüche, wie „und das soll etwas heißen?“ oder „Das kann ich ja gar nicht lesen.“

Deshalb habe ich mir einige Gedanken zum Thema „Literatur als Grundlage von Kalligraphie oder wie lese ich das Unsichtbare“ gemacht.

Von jeher sind Schrift und Literatur, Buchstaben und Texte symbiotisch miteinander verbunden. Ohne das eine ist das andere nicht vorstellbar. Ein Gedanke wird durch Schrift fixiert, wird lesbar und damit anderen zugänglich.

Kalligraphie und hier spreche ich vor dem Hintergrund der Arbeiten Marí Bohleys leistet noch mehr als die bloße Fixierung eines Gedankens – mittels Kalligraphie wird ein Gedanke interpretiert. Die Interpretation eines Gedankens kann sogar so weit gehen, dass er sich der Lesbarkeit im eigentlichen Sinne wieder entzieht. Der Rezipient wird eher zum Betrachter als zum Leser. Er ist gefordert Entschlüsselung eines Werkes, nicht nur die eigentliche Umsetzung des Gedankens in Schrift sondern auch die Wahl des Papiers, des Formats, des Schreibgerätes und der Farbe in die Betrachtung einzubeziehen.

Die Künstlerin hat sich entschieden, dem Betrachter eine Art Hilfestellung an die Hand zu geben, indem Sie die Gedanken, die Texte, die den Arbeiten voraus gingen, hie und da im Werktitel verarbeitet hat.

Den Arbeiten in dieser Ausstellung liegen nun erstmals auch eigene Texte der Künstlerin zugrunde.

Angeleitet durch den amerikanischen Kalligraphen Steven Skaggs begannen Worte, Sätze, Fragen, ja kleine poetische Träumerein aus Marí zu fließen, die zu ihrer Arbeitsgrundlage wurden. In diesem Vorgehen kommen mir Vergleiche zu den Surrealisten der 1920er Jahren in den Sinn, die sich u. a. dem automatic writing als Ausdrucksform bedienten.

Mit dem Verfassen eigener Texte verlor Marí Bohley nach ihrer eigenen Aussage die Scheu vor der „großen“ Literatur. Was dem einen die Angst vor dem Horror vacui, der Scheu vor der Bildleere, scheint ihr der Respekt vor den literarischen Honoratioren.

Mit ihren eigenen Texten will sie sich keinesfalls über die sogenannte große Literatur erheben, im Gegenteil, sie huldigt ihr.

Marí Bohleys Aussagen und Gedanken sind Fragen. Kern ihrer Fragen sind das Leben und die Liebe, Ihre Akteure findet sie unter Menschen und unter Bäumen.

So fragt Sie bspw.

– Blättert der Baum im Herbst in den Erinnerungen des vergangenen Sommers?

– Vermisst der Winterbaum das fordernde Wispern und Rascheln seiner vergilbten Kinder oder genießt er die unerwartete Stille des Schnees?

– Klingen sie nach oder beginnen sie zu singen, die Schwingen der Liebe, wenn der Liebste fort ist?

Diese Fragen verstehen sich als Hommage an Pablo Neruda. Bereits in früheren Arbeiten interpretierte sie Texte Nerudas, ergötzte sich dabei an seinen Hinterfragungen an das Leben.

Die Arbeiten mit ihren Fragen drängen mich als Betrachter in die Rolle des Antwortenden und so wird meine Antwort, die auch aus einem Schweigen, einem Schulterzucken, einem Schmunzeln oder einer Gegenfrage bestehen kann, zum Teil dieser Arbeit.

Mit Fragen wird eine Interaktion provoziert. Dies gelingt Marí Bohley mit ihren Fragen vortrefflich.

Zu 3: Abstraktion

Damit bin ich beim dritten Thema angelangt, die Abstraktion in den Arbeiten Marí Bohleys.

Ich hatte Gelegenheit bei einer gemeinsamen Fahrt nach Sylt, und dies war weiß Gott keine kurze Fahrt, mit Marí ins Gespräch zu kommen. Wir sprachen über so Vieles. U. a. erzählte Marí von Ihrem Fernweh, Ihrer Begeisterung für das Fremde, das vermeintlich Unerreichbare. Wenn ich nun die Arbeiten in Acryl auf Leinwand sehe, habe ich das Gefühl, der Rausch des Fremden habe wieder Besitz von Marí ergriffen, der ihre Hand, ihren ganzen Arm, ihren Atem und ihren Geist führte. Kraftvoll nutzt sie die japanischen Kalligraphiewerkzeuge, lehnt sich an japanische Pinselführung an.

Ich versuche mir vorzustellen, wie viel Konzentration sich Sekunden vor dem Setzen des ersten Striches ballt. Wie viel Spannung in der tatsächlichen Bewegung des Pinsels liegt. Der erste Strich teilt das weiße, wertvolle Blatt oder die aufwendig preparierte Leinwand. Der zweite Strich reagiert auf den ersten Strich. Vor dem Setzten eines weiteren Pinselzuges setzt Zwiesprache ein. Ich glaube nach der Entscheidung, keinen weiteren Pinselstrich zu setzen, folgt ein tiefes Durchatmen…

Das Zeichenhafte, das Abstrakte in den Arbeiten von Marí Bohley ist nicht neu, ich glaube aber, dass die Vorbereitung auf die wenigen Pinselzüge, eine Tiefere ist.

Zu Punkt 4:

Ja nun sind da noch die zwei Arbeiten über den Vitrinen, die ich besonders ins Herz geschlossen habe. Es sind Kollagen. Auf die Kollage als Arbeitstechnik greift Marí Bohley immer wieder zurück. Es waren nicht zuletzt die Kollagen des Kalligraphen Brody Neuenschwander, die die Künstlerin in ihrem Werk beeinflusst haben.

Mir scheint, in der Kollage vereint sich die Freude am Sammeln und Aufbewahren mit dem faszinierenden Vorgang des Hervorhebens und wieder Versteckens. Das nämlich passiert, wenn verschiedene Papiere, Fragmente von Schrift oder ein antiquierter Bucheinband angeordnet werden. Wenn sich eine Schicht über die andere legt, tritt der Text, das Textfragment geheimnisvoll in den Hintergrund oder scheint durch eine darüber gelegene Schicht hindurch oder verharrt als Sichtfenster zwischen Papierbegrenzungen. In der schwierigen Lesbarkeit liegt Geheimnis und Erwartung. In der Plastizität der Oberflächen liegt der Drang nach Berührung.

Die Auswahl, die Marí Bohley an Materialien trifft, trifft sie auch für den Text. Es sind Fragmente. Im rechten Bild hebt sie die Worte „Wohin Gehen & Fliehen“ aus dem 139. Psalm hervor. Im rechten Bild wählt sie aus Psalm 126 die Worte „Sein wie die Träumenden“.

Diese beiden Blätter sind Auftragsarbeiten, die als Drucke in einem Kalender erscheinen werden.

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Marí Emily Bohley hat in Ihren Arbeiten dieser Ausstellung neue Wege beschritten, sie hat sich auf neue Schriften, große Formate, neue Schreibwerkzeuge, neue Herangehensweisen eingelassen und hat sich darüber hinaus dem Wagnis eigener Textumsetzung ausgesetzt. Sie lässt sich dabei nicht in die Grenzen drängen, die Buchstaben vorzugeben scheinen. Sie geht über die Grenzen von Schrift hinaus.

Zu den neuen Arbeiten wurde Marí Bohley u. a. von der Französin Denise Lach, dem Engländer Ewan Clayton, den Amerikanern Brody Neuenschwander und Steven Skaggs sowie Torsten Kolle aus Deutschland angeregt. Bei diesen Kalligraphen nahm Marí Bohley Unterricht. Die Anregungen, die sie dabei erhalten hat, die Erfahrungen die sie dabei gesammelt hat und das Handwerk, das sie dabei erlernt hat, gibt sie gern auch weiter. Das neue Kursprogramm für den Herbst liegt bereits vor. Sie können es gern mitnehmen.

Nun sind Sie herzlich eingeladen, sich in die Auseinandersetzung mit den Arbeiten Marí Bohleys zu begeben, auf die gestellten Fragen in den Werken zu antworten oder sich selbst Fragen zu stellen. Finden sie Ihre eigenen Titel zur Ausstellung o. T.

Und da dies eine Verkaufsausstellung ist, können Sie das eine oder andere Lieblingsstück auch käuflich erwerben.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Julia Schönfeld, Juni 2005